Mittwoch, 15. Juli 2015

Der soziale Mensch #1 - Soziale Rollen

Ich bin kein sozialer Mensch. Große Menschenmengen bereiten mir Angst. Partys mit vielen fröhlichen, alkoholtrinkenden Menschen machen mich traurig. Neue Freundschaften schließen empfinde ich als anstrengend. Manchmal sage ich humorvoll, dass ich Menschen nicht mag. Oft genug ist das aber tatsächlich die Wahrheit.

Es ist nicht so, dass ich ein Einsiedler bin, oder dass ich kein Herz für meine Mitmenschen habe. Im Gegenteil. In der Schule war ich Vertrauensschülerin und Schulsprecherin. Das Hobby, das den größten Teil meiner Zeit eingenommen hat, fand in einem kirchlichen Kontext statt, wo ich Kindergruppen bereut habe. An der Universität habe ich Erstsemester unterrichtet oder für zugezogene Studenten Stadtführungen gemacht. Mein Nebenjob in einem Coffee-Shop war eine erhebende Erfahrung, weil ich die Rolle der Servicekraft in der Gastronomie geliebt habe, ebenso wie ich jetzt meinen Nebenjob als Servicekraft in der Bibliothek liebe.

Doch am Ende des Tages bin ich lieber alleine, umgeben vielleicht von einem meiner drei besten Freunde oder zusammen mit meinem Freund. Wenn ich alleine bin, ist niemand da, der Erwartungen an mich stellt. Wenn ich alleine bin, ist mein Aussehen egal, mein Verhalten egal, meine Sprache egal. Ich muss keine Kompromisse schließen.

Sobald ich aus der Wohnung trete, bin ich mir meiner selbst sehr bewusst. Treffe ich mich dann im privaten Kontext mit vielen anderen Menschen, Freunden, Bekannten, Familienmitgliedern, Unbekannten, ergreift mich eine Beklemmung, die über die Zeit wächst. Ich merke, dass es Energie kostet, mich für andere Menschen zu interessieren. Ich merke, dass es Energie kostet, diesen anderen Menschen ausschließlich jene Facetten meines Selbst zu zeigen, die ich für präsentabel halte. Und manchmal beschleicht mich das beklemmende Gefühl, dass es gar keine präsentablen Seiten gibt. Da will ich am liebsten wieder alleine sein.

Im Coffee-Shop oder in der Bibliothek, selbst als Schulsprecherin ist das anders. Ich habe eine Rolle, die Menschen sehen nicht mich, sondern nur meine Rolle. Die Erwartungen dieser Menschen sind nicht an mich, sondern an meine Rolle gerichtet, und über die Zeit lerne ich, dieser Rollenerwartung gerecht zu werden. Niemand be- oder verurteilt mich, sondern nur meine Rolle. Es ist mein Panzer, der es mir ermöglich, stets freundlich zu lächeln und über unfreundliche Kunden den Kopf zu schütteln, ohne dass es mir nahe geht. Deswegen liebe ich meine Arbeit im Dienstleistungsgewerbe. Andere Menschen haben das Gefühl zu ersticken, weil sie in diese Rolle gepresst werden, ich hingegen blühe darin auf, weil mein eigentliches Ich niemanden interessiert. Es gibt eine klar definierte, überschaubare Anforderung an meine Rolle, die ich bewältigen kann. Ich muss nicht selbst entscheiden, was ich zeige oder wie ich bin, das übernimmt die Rolle für mich.

Im privaten Kontext hingegen muss ich mich zeigen. Muss ich entscheiden, was ich zeige. Muss ich dafür sorgen, dass nur das Positive gesehen wird. Da habe ich keine Rolle, die mich schützt, ich bin auf mich zurückgeworfen. Ich muss mich der Gruppe anpassen oder ausgeschlossen werden. Der Mensch ist ein soziales Wesen, er strebt natürlich danach, nicht ausgeschlossen zu werden. Auch ich habe diesen Drang, doch die Umsetzung fällt schwer. Gegenüber meinen besten Freunden kann ich sein, wie ich bin. Das ist angenehm. In größeren Gruppen, in größeren Familienkreisen, in allen größeren privaten Kontexten hingegen muss ich mich anpassen so wie jeder andere auch.

Wenn es mir jedoch gelingt und ich es schaffe, mich in die Gruppe zu integrieren, fühle ich mich sehr wohl und bin glücklich wie nie. Es sind diese Momente in denen ich begreife, was es eigentlich bedeutet, dass der Mensch ein soziales Wesen sind. Wir kommen an unsere Grenzen, lernen neue Dinge und Ansichten und können uns besser denn je entfalten, nur weil wir mit anderen Menschen zusammen kommen.

Die soziale Rolle der Berufstätigkeit bietet Schutz und deswegen blühe ich darin auf. Doch meine soziale Rolle kann niemals so befreiend sein wie die Erfahrung, innerhalb eines privaten Kontextes als genau das angenommen zu werden, was man ist, und sei es auch nur eine Facette von einem selbst.

Die soziale Rolle im professionellen Kontext schützt. Die soziale Rolle im privaten Kontext befreit.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen